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Verdrängte (Bildungs-)Geschichte? Zur Bedeutung der historischen Erziehungs- und Bildungswissenschaft in der Lehrer:innenbildung

Die Frage nach dem Stellenwert pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Inhalte in der Ausbildung von Lehrkräften wurde insbesondere im Zuge der Bologna-Reform der Lehrer:innenbildung mehrfach thematisiert. Entsprechende Analysen zum Umfang und zur Gestalt solcher Anteile verweisen auf ihre insgesamt prekäre Stellung im Curriculum, insbesondere im Vergleich zu der Ausbildung in den Unterrichtsfächern und deren Didaktiken.[1] Mit der Einführung eines disziplinären Rahmenkonzepts „Bildungswissenschaften“  insbesondere auch in der Lehrer:innenbildung ist der quantitative Anteil dieses Elements gegenüber den anderen Elementen zwar gewachsen, wie  Terhart  feststellen konnte; allerdings sind die genuin erziehungswissenschaftlichen Inhalte und Zugänge durch die terminologische Zusammenfassung – in erster Linie mit Psychologie und Soziologie – geschrumpft. Hinzu kommt, dass jüngere Reformen der Lehrer:innenbildung eher dazu tendieren, die Fachwissenschaften und Praxisanteile aufzuwerten . Problematisiert wurde zudem die Vernachlässigung einer bildungswissenschaftlichen Qualifizierung von Quer- und Seiteneinsteiger:innen . Casale et al. sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Entkoppelung von Lehrerbildung und Erziehungswissenschaft“ . Diese Entwicklung – verbunden mit einer vorwiegend pädagogisch-psychologisch geprägten Auslegung von Bildungswissenschaft(en) und einem verengten Verständnis von empirischer Wissenschaft – wirkt sich auf die Bedeutung der historischen Erziehungs- …

Parteipolitischer Einfluss auf politische Bildung – nur ein ostdeutsches Phänomen? Ein bildungsgeschichtlicher Rückblick

Eine Erkenntnis sorgte für Aufsehen nach der Bundestagswahl zu Beginn des Jahres 2025 und dem Superwahljahr 2024 mit der Europawahl sowie den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg: Ein hoher Anteil vor allem ostdeutscher Jungwähler gab seine Stimme der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Also einer Partei, deren Landesverbände in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zum Zeitpunkt der Wahlen bereits vom Verfassungsschutz und von Rechtsexpert:innen als gesichert rechtsextrem und als Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eingestuft wurden . Allein bei der thüringischen Landtagswahl stimmten 38 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler:innen für die AfD (vgl. auch Abb. 1). Abb. 1: Stimmenanteile der AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September 2024; Quelle: statista 2025; Infratest dimap; Thüringen: 19.527 Befragte (ab 18 Jahre); Sachsen: 20.389 Befragte (ab 18 Jahre); Brandenburg 21.059 Befragte (ab 16 Jahre); eigene Darstellung. Auf der Suche nach Gründen und Lösungsansätzen rückte auch die Forderung von Wissenschaftler:innen nach mehr und anderer Demokratie-Bildung in den Vordergrund (; ). So schaffe es etwa die politische Bildung an Schulen nicht in ausreichendem Maße, demokratische …

Titelbild vom ‚Spiegel‘ 20/2002; https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2002-20.html

60 Jahre „Bildungskatastrophe“ – Georg Picht, der „Notstand“ und die Vision einer unabhängigen Exekutive

Georg Pichts vor 60 Jahren in der Wochenzeitung „Christ und Welt“ ausgerufene, rasch in Buchform gegossene „Bildungskatastrophe“ wird bis heute wie selbstverständlich im Munde geführt. Seine damalige Kritik an konfessionellen dörflichen Zwergschulen, am exklusiven altsprachlichen Gymnasium und an föderalen Bildungsstrukturen verband Picht mit verschiedenen Reformvorschlägen. Sie zielten auf den bundespolitisch einheitlichen Ausbau des Schulwesens. Besonders Pichts gesamtstaatlich und ökonomisch begründete Forderung nach Steigerung der Abiturientenquote gilt als wesentlicher Beitrag für den Wandel der sich weiteren gesellschaftlichen Schichten öffnenden Höheren Schulen wie des ganzen Schulsystems. Anknüpfend an den vermeintlichen Erfolg des zum Evergreen mutierenden Originals von 1964 folgten in den Folgejahren unzählige „-strophen“ zur Erneuerung der Kritik am Bildungswesen. Das Recyceln des Titels konnte allerdings auch zur Abrechnung mit seinem Urheber dienen, dem die Verantwortung für strittige Reformfolgen zugeschrieben wurde, z. B. universitäre Überfüllung und Leistungsfeindlichkeit (vgl. ). Diese Rolle des „Sündenbockes“ beklagte Picht bereits zehn Jahre nach Erscheinen seiner „Bildungskatastrophe“. Doch taugte der marketingträchtige Buchtitel auch nach der Jahrtausendwende, um in der Variante der „neue[n] Bildungskatastrophe“ schlechte PISA-Ergebnisse deutscher Schüler:innen zu kommentieren. Die Zeitdiagnose der …