Kolumne, Zeitgeschehen

Abbruch oder Aufbruch? Eine zeithistorische Universitätsgeschichte der Transformationsphase nach 1989

Begann die Deutsche Einheit im Hochschulwesen mit einem Wort- und Rechtsbruch?[1] Die Abwicklungen zur Jahreswende 1990/91, die einen Sturm des Protests auslösten, markieren eine der zentralen Zäsuren im Hochschulumbau Ost. Auch über den eigentlichen Strukturumbau hinaus wird bis heute in hitzigen Kontroversen um die Deutungshoheit gerungen (vgl. ). Mit Ablauf der 30-Jahresfrist gibt der Quellenzugang Aufschluss über den Entscheidungsprozess, die zentralen Akteurskonstellationen und mögliche Alternativvorstellungen. Eine Historisierung der Ereignisse und integrierte Einbettung in breitere Zusammenhänge ist damit möglich.[2]

In der Rückschau beklagte Günther Krause, ehemaliger Verhandlungsführer der DDR-Delegation im Einigungsprozess, die Bestimmungen des Einigungsvertrages (EV) seien nach der Wiedervereinigung vielfach gar nicht umgesetzt worden . Inwiefern das auch für den Hochschulsektor zutrifft, ist seit jeher umstritten. Denn einerseits war nach dem Umbruch 1989/90 die Umgestaltung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft nach westdeutschem Vorbild das erklärte Ziel. Andererseits bestanden über den Weg zur personellen und strukturellen Hochschulerneuerung unterschiedliche Vorstellungen. Nach Artikel 38 EV sollte eine strukturelle Umgestaltung der Hochschullandschaft erst im Anschluss an eine Begutachtung durch den Wissenschaftsrat erfolgen, die bis spätestens Ende 1991 abzuschließen wäre. Ein Sonderkündigungsrecht ermöglichte die personelle Erneuerung in Einzelfallprüfungen durch (außer-)ordentliche Kündigungen. Die im Oktober 1990 gewählten ostdeutschen Landesregierungen beschritten jedoch einen abweichenden Weg und verfügten zur Jahreswende 1990/91 großflächig sog. Abwicklungen auf Grundlage des Artikels 13 EV , d.h. Schließungen von (Teil-)Einrichtungen im Hochschulwesen; von diesen Maßnahmen waren mehrheitlich die systemnahen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit ungefähr 89 Prozent ihres Hochschulpersonals betroffen (vgl. ).[3]

Öffentliche Kritik hob an: Das sei glatter Wort- und Rechtsbruch (vgl. ). In der Tat war die Anwendung des Artikel 13 EV ursprünglich für den aufgeblähten Verwaltungsapparat der DDR angedacht. Was dort in der öffentlichen Verwaltung eine allenthalben nachvollziehbare Vorgehensweise war, erregt mit Blick auf das Hochschulwesen bis heute die Gemüter. Es ist zu konstatieren: Im EV war keinem der beiden genannten Artikel eine Vorrangstellung eingeräumt worden, was eine langanhaltende Rechtsunsicherheit zur Folge hatte (vgl. ). Eine Vielzahl an bisherigen sozialwissenschaftlichen und zeitdiagnostischen Deutungsmustern beschränkte sich letztlich darauf, diese Geschichtsepisode rückblickend als unvermeidbar und unverrückbar hinzunehmen: Auf einen Systemwechsel müsse ein Elitenaustausch folgen (vgl. ). Aus zeit- und universitätshistorischer Perspektive ist dagegen zu fragen: Wie ist die Abkehr von der Evaluierung hin zur Abwicklung zu erklären? Was bedeutete der Kurswechsel für die Hochschulen und Universitäten vor Ort?

Abbildung 1: Studentenproteste an der Karl-Marx-Universität Leipzig gegen die Abwicklung, 08.01.1991, Quelle: Universitätsarchiv Leipzig, ZFF 5539.

Das Hochschulwesen in der Umbruchsphase 1990/91: Das Ende einer Verhandelten Revolution?

Die Hochschulen und Universitäten waren kein Hort der Revolution im Jahre 1989 (vgl. ). Es spricht deshalb einiges dafür, die personellen und strukturellen Umgestaltungen bis in die Mitte des Jahres 1990 mit dem Begriff der „Verhandelten Revolution“ zu umschreiben. Der Transformationsforscher und Osteuropaforscher Philipp Ther versteht darunter aus transnationaler Perspektive den schrittweisen System- und Elitenwechsel (vgl. ). Überträgt man das Konzept auf die ostdeutschen Hochschulen, so fand dieses Vorgehen, zumindest in den von Abwicklungen betroffenen Fächern, zur Jahreswende 1990/91 ihr vorläufiges Ende.

Abwicklungen waren bis in den Herbst 1990 kein Thema. Auf Spurensuche im Archivmaterial des Wissenschaftsministerium der DDR wird vielmehr ersichtlich, dass in den Verhandlungen zur Deutschen Einheit nicht einmal die Möglichkeit ernsthaft diskutiert wurde . Wie erklärt sich das? Hier ist ein Blick auf die Gemeinsame Bildungskommission nötig: In dieser paritätisch besetzten, deutsch-deutschen Kommission waren Ziele und Wege der Zusammenführung der beiden Wissenschafts- und Hochschulsysteme besprochen und im Einigungsvertrag fixiert worden (vgl. ). Die Leitidee des eingangs erwähnten Artikels 38 EV war es, eine „notwendige Erneuerung“ an den Hochschulen und Universitäten zu vollziehen, gleichsam unter „Erhaltung leistungsfähiger Einrichtungen“ . Doch was war damit gemeint?

Das war nur in Grundzügen definiert. Für einen Zeitraum von drei Jahren sollten die ostdeutschen Bundesländer von den Bedingungen des Hochschulrahmengesetzes, das u.a. die Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit von Studiengängen garantierte, abweichen dürfen. Das zentralistische Hochschulwesen der DDR ließe sich nicht, so die Haltung des Ministerrates der DDR, über Nacht auf föderale Strukturen eines Bundesstaates übertragen: die Reduzierung des Hochschulpersonals, Umstrukturierungen, Zusammenführungen oder Auflösungen von Hochschulen, Anpassung der Hochschulgremien an westdeutsche Verhältnisse usw. – all das brauchte Zeit, so der Standpunkt der DDR-Delegation. Der Wissenschaftsrat sollte entsprechende Strukturempfehlungen vorbereiten. Im Artikel 38 EV fand sich hierfür das geflügelte Wort der „Einpassung“ .

Zeit war im Vereinigungsprozess generell ein knappes Gut. Zu Beginn der Verhandlungen gingen beide Seiten noch davon aus, die ostdeutschen Länder würden Ende 1990 oder Anfang 1991 und überdies zu Zeiten der DDR-Zentralregierung gegründet werden. Eine Zuordnung der einzelnen Hochschulen auf die Länderzuständigkeiten wäre dann erst erfolgt (vgl. ). Der Gang der deutschlandpolitischen Entwicklungen überholte solche Planungen: Nach dem nächtlichen Volkskammerbeschluss vom 23. August 1990 wurde der Beitritt auf den 3. Oktober 1990 vorgezogen. Das machte die Zuordnung der zentralistischen Hochschullandschaft auf die föderalen Träger unmittelbar erforderlich. Wie sollte man solche Entscheidungen aber vorbereiten, ohne dass die Ansprechpartner – die ostdeutschen Landesregierungen – bereits vorhanden waren?

Ab diesem Zeitpunkt verlor die DDR-Regierung an Verhandlungsmacht. Vermehrt wurde die Arbeit von Hans Joachim Meyer, DDR-Wissenschaftsminister, dahingehend kritisiert, er würde unzulässig den Handlungsspielraum der künftigen ostdeutschen Länder einengen.[4] Denn die westdeutschen Bundesländer wachten mit Argusaugen über ihre Länderkompetenzen – hier: die Kulturhoheit! Insbesondere in der Vorläufigen Hochschulverordnung, die in Form einer Übergangsregelung bis zur Verabschiedung von Landeshochschulgesetzen in allen ostdeutschen Bundesländern galt, witterten einige Personen in der Bundesrepublik einen unzulässigen „Schutzschild“ gegenüber Landesrechten . An dieser Stelle gewann nun der Artikel 13 des Einigungsvertrages an politischer Sprengkraft: Er ermächtigte die neuen Bundesländer, mit Beitrittsdatum über die Fortführung oder Abwicklung von öffentlichen Einrichtungen zu entscheiden – und die in der Verordnung bereits gewährte Hochschulautonomie wieder auszuhebeln .

Die Landtagswahlen fanden im Osten erst zum 14. Oktober 1990 statt. Während dieses Interregnums hatten die Entscheidungen nach Artikel 13 EV die sog. Landessprecher in den neuen Bundesländern zu treffen, eine Art Verwalter unter Aufsicht des Bundesministeriums des Innern. Um möglichem Amtsmissbrauch vorzubeugen, wurde auf Betreiben des Ministerrates der DDR eine dreimonatige Verlängerung der Entscheidungsfrist durchgesetzt (vgl. ). Spätestens zum 2. Januar 1991 waren Übernahmen oder Abwicklungen dann fällig.

Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (r.) und Hans-Joachim Meyer, Minister für Bildung und Wissenschaft der DDR, unterzeichnen im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft eine Vereinbarung über Schulbuchhilfe in Höhe von 30 Millionen DM zwischen den beiden deutschen Staaten.

Auf Seiten der DDR-Verhandlungsdelegation wuchs der Unmut. In einem Schreiben an den Bundespräsidenten, Richard von Weizäcker (1920-2015), klagte Wissenschaftsminister Meyer, der verhandelte Fahrplan könnte letztlich unterlaufen werden. Er fürchtete, „daß die künftigen ostdeutschen Landesregierungen, die naturgemäß unerfahren sind und wohl kaum sehr kompetent, sich zu schwerwiegenden Eingriffen in das Hochschulwesen verleiten lassen werden, was notwendigerweise verhängnisvolle politische Konsequenzen haben müßte“ .

Vorboten einer neuen Ordnung: Durchsetzung der Revolution und des Neoliberalismus im Hochschulwesen

Der Druck zur schnelleren „Einpassung“ nahm mit Vollzug der Deutschen Einheit spürbar zu. Auf der einen Seite politisch: In die wissenschaftspolitischen Schaltstellen der neu gegründeten Länder rückten häufig solche ostdeutschen Personen vor, deren politische Karrieren ihren Ursprung in den revolutionären Umbrüchen 1989/90 hatten (vgl. ). Diese Personengruppe einte die Kritik an der sozialistischen Kaderpolitik der SED und der Wille nach einer energischen Aufarbeitung. Überspitzt formuliert: Sie trugen die revolutionäre Energie des Herbst 1989 über die Deutsche Einheit fort. Dass davon auch das Hochschulwesen nicht verschont werden sollte, propagierten sie ganz offen; hier der wissenschaftspolitische Sprecher der CDU-Sachsen, Matthias Rößler, der eng mit der sächsischen Bürgerbewegung verbunden war, in einer aktuellen Stunde im Sächsischen Landtag am 14. Dezember 1990 zum Thema der Hochschulerneuerung: „An konstruktiver Radikalität bei der Erneuerung im Bildungsbereich, besonders in den Universitäten […] läßt sich die CDU hier in Sachsen von niemandem überholen (Beifall bei der CDU)“ .

Auf der anderen Seite traten zu den politisch-moralischen Kritiken ökonomisch-fiskalische Erwägungen: Die Bundesländer in Ost und West könnten sich eine schrittweise Angleichung nicht leisten, so vor allem der Tenor aus den alten Bundesländern . Damals ging die Sorge um, die ohnehin schon überlasteten Hochschulen der Bundesrepublik würden von Studierenden aus der ehemaligen DDR „überschwemmt“. Die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Hochschulen musste demnach unverzüglich verbessert werden. Die Verfechter eines „Wettbewerbsparadigmas“, die bereits seit den frühen 1980er Jahren die Reformbedürftigkeit des maroden westdeutschen Hochschulsystems propagierten, erhofften sich von einer Hochschulreform im Osten eine Initialzündung für eine gesamtdeutsche Reformanstrengung (vgl. ). Das Hochschulwesen wurde also nicht bloß „eingepasst“, sondern auch in ein übergreifendes Reformdenken eingetaktet.[5]

Eine Arbeitsgruppe „Einigungsvertrag“[6] sollte den im Aufbau befindlichen ostdeutschen Ländern Amtshilfe leisten und eine Entscheidungsfindung ermöglichen. Zwei zentrale Empfehlungen wurden zu Papier gebracht: Erstens böten Abwicklungen die Chance, Personen schnell aus den Hochschulen zu entfernen und die Hochschulstruktur zügig umzustrukturieren. Zweitens dürften Abwicklungen und Neugründungen aber keinesfalls willkürlich erfolgen. Andernfalls drohten Arbeits- und Verwaltungsklagen. Die Arbeitsgruppe schlug deshalb ein einheitliches und koordiniertes Handeln vor, konnte sich aber nicht durchsetzen. Die neuen Bundesländer pochten ihrerseits auf die Ausübung der Kulturhoheit .

„Aus Tradition Grenzen überschreiten“ – das Fallbeispiel der Leipziger Juristenfakultät

Am Beispiel der Juristenfakultät Leipzig[7] lassen sich im Folgenden die Herausforderungen, vor denen das Hochschulpersonal und die ostdeutsche Landespolitik im Zuge der schnellen Vereinigung standen, auf lokaler Ebene beispielhaft darstellen.

Mit dem Ende der DDR war die politische Karriere von Hans Joachim Meyer nicht beendet. Im Freistaat Sachsen wurde er Staatsminister für Wissenschaft – und verfügte landesweite Abwicklungen. Wie passt das mit den vorherigen Schilderungen zusammen? Auch er musste sich mit den geschilderten politischen und ökonomischen Verhältnissen arrangieren. Aus Akten und Zeitzeugenberichten wird deutlich, dass er zwar Vorbereitungen zur schrittweisen Umgestaltung der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaft traf.[8] Die Pläne konnte er aber nicht durchsetzen. Die bereits zitierte Landtagsfraktion der CDU, der Meyer selbst angehörte, übte massiven politischen Druck aus, kurzfristig Abwicklungen der „ideologiebelasteten“ Einrichtungen auszusprechen. Zudem war der Wissenschaftsminister gefordert, zur Entlastung der klammen Staatskasse die Personaldecke zu reduzieren. Auf Sachsen konzentrierten sich ostdeutschlandweit die mit Abstand meisten Hochschuleinrichtungen sowie höchste Anzahl an Hochschulangehörigen (vgl. ).

Was bedeutete das Hin und Her nun für Hochschulen vor Ort? Ein Blick nach Leipzig: 

Von einer Abwicklung ging Richard Hähnert nicht aus. Der Dekan der Leipziger Juristenfakultät schickte noch am 12. Dezember 1990 einen Bericht an das Wissenschaftsministerium und informierte über die erreichten und geplanten Reformschritte: Aufbau einer neuen Fakultätsstruktur, Entwicklung eines Übergangsstudienplans, Einsatz von westdeutschen Gastprofessoren in der Lehre und die Teilnahme an Weiterbildungsprogrammen für das Fakultätspersonal aus der ehemaligen DDR. Er bat um Bestätigung einer Berufungskommission mit mehrheitlich ostdeutscher Besetzung und skizzierte, welche Forschungsschwerpunkte die Fakultät künftig legen würde. Insgesamt sei die Fakultät auf dem richtigen Weg, die Umgestaltung inhaltlich und personell bis 1992/3 abzuschließen, so das Fazit . Keine 24 Stunden später schrieb Hähnert erneut an das Ministerium: Aus der Presse hatte der Dekan von der am 11. Dezember 1990 beschlossenen Abwicklung seiner „Sektion Rechtswissenschaft“ erfahren; durch den demonstrativen Rückgriff auf die vormalige Bezeichnung der 1990 in Juristenfakultät umbenannten Einrichtung unterstrich das Ministerium die angestrebte Diskontinuität . Unter einem westdeutschen Gründungsdekan sollte eine „neue Fakultät“ aufgebaut werden; das vormalige Personal schickte man in die sog. Warteschleife.[9]

Zur Begründung der Abwicklung hieß es aus dem Ministerium, die Lehrinhalte der Fakultät seien „einseitig auf die Ideologie und auf die Staats- und Gesellschaftsordnung des real existierenden Sozialismus“ ausgerichtet gewesen. Das Lehr- und Forschungsangebot genüge deshalb nicht den Anforderungen einer freiheitlichen Gesellschaft, eines demokratischen Rechtsstaats sowie einer sozialen Marktwirtschaft. Der Analyse stimmte Hähnert auch vollkommen zu – merkte aber sogleich an, dass die dargelegten Zustandsbeschreibungen gar nicht mehr den tatsächlichen Bedingungen des Jahres 1990 gerecht würden, wie eben einen Tag zuvor umfassend dargelegt. Probleme in der Studienorganisation und Wissensvermittlung würden eine Abwicklung keinesfalls rechtfertigen, so seine Kritik . Namhafte Professoren aus dem Westen gingen in ihrer Kritik noch weiter: Mit den Abwicklungen würden rechtsstaatliche und arbeitsrechtliche Garantien der Bundesrepublik unterlaufen (vgl. ).

Hähnert bat unter Verweis auf die „nicht zutreffenden Voraussetzungen“ um Revision des Beschlusses. Ohne Erfolg. In dem ganzen Entscheidungsprozess spielte das Schreiben der Juristenfakultät keine Rolle; es wurde auch erst am 17. Dezember 1990 zur Kenntnis genommen – da war die Messe nur schon gelesen. Die Fakultät bereitete daraufhin gemeinsam mit der Hochschulleitung der Karl-Marx-Universität Leipzig eine Verwaltungsklage vor, doch entzog der Rektor, Kurt G. Leutert (1929-1999), seine Unterstützung kurzfristig wieder. Nach mehrwöchigen Protesten an der Universität wurde folgende Verständigung mit dem Wissenschaftsminister gefunden: Die Abwicklung blieb zwar in Kraft, doch erhielt das Personal Zeitverträge und die Studierenden sollten ihr Studium, unter einem modifizierten Studienplan, fortsetzen können.

Mit Blick auf den erzielten Ausgleich stellte der Justizminister, Steffen Heitmann, an seinen Amtskollegen gerichtet fest, er sehe keinen weiteren Handlungsbedarf mehr. Der an die Stelle von Hähnert eingesetzte Gründungsdekan aus Köln, Peter Krause, sah die Dinge hingegen anders: Wie sollte das abgewickelte Hochschulpersonal denn weiterhin an der Fakultät arbeiten, wo ein solches Vorgehen die Auflösung doch de facto unterlaufen würde? Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Grundsatzurteil zur Warteschleife ähnlich argumentiert: So seien Auflösungen, die eine endgültige Schließung bedeuteten, grundsätzlich rechtmäßig; Neugründungen von Einrichtungen mit der gleichen Funktion hingegen nicht . In der Folge kam das Urteil des Oberverwaltungsgericht Berlin, die Abwicklungen an der Humboldt-Universität zu Berlin gänzlich wieder aufzuheben, einem hochschulpolitischen Urknall gleich. Nun war unklar, ob nicht doch auch die „Alt-Leipziger“ den Klageweg beschreiten würden.

Die Lage an der Fakultät spitzte sich zu. Der Gründungsdekan ließ sich schließlich in einem Streit mit ostdeutschem Hochschulpersonal zu Tätlichkeiten und Beleidigungen hinreißen, die auf Tonband festgehalten wurden. Er musste sein Amt räumen. Die Lokalpresse spottete: „Im Zentrum der Juristenausbildung steht künftig das Faustrecht.“[10] Während Leipzig unter den rechtlichen Folgen der Abwicklung litt und zusehends Ost-West-Konflikte die Aufbaustimmung beeinträchtigen, schritt in Dresden der Aufbau einer konkurrierenden Fakultät voran. Der Ministerpräsidenten Sachsens, Kurt Biedenkopf (1930-2021), wurde zur Intervention aufgerufen – das Damoklesschwert hing über der traditionsreichen Juristenfakultät.

Einen Ausweg aus der Misere zeigte der zweite Gründungsdekan, Wolfgang Gitter (1930-2018), der einer mehrheitlich westdeutschen Gründungskommission vorstand, auf: Das verbliebene, ehemalige Hochschulpersonal sollte fachlich und politisch evaluiert, in die Lehre eingebunden und über Zeitverträge weiterbeschäftigt werden. Der Aufbau konnte so bis 1993 weitgehend konfliktfrei abgeschlossen werden. Ein Vorgehen letztlich, das einer Abkehr von der Abwicklungspolitik und einer Rückkehr zu den ursprünglichen Plänen der Hochschulerneuerung gleichkam . Im Ergebnis schied dennoch die Mehrzahl der wissenschaftlichen Fakultätsangehörigen aus fachlichen und politischen Gründen aus (ca. 80 Prozent). Die Erfahrungen und Bilder jener kurzen Episode der „Abwicklungen“ aber hatten dem Hochschulumbau Ost nachhaltig ihren Stempel aufgedrückt; analog zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (bspw. das Wirken der Treuhandanstalt, vgl. ).

Abb: 3: Studentenproteste gegen die Abwicklung an der Karl-Marx-Universität, 08.01.1991, Quelle: Universitätsarchiv Leipzig, ZFF 5539.

Deutungsmuster aus Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte(n) auf dem Prüfstand

In der öffentlichen Wahrnehmung und Forschungsliteratur hat sich das Bild der unpolitischen Naturwissenschaften auf der einen Seite und der politischen Gesellschaftswissenschaften auf der anderen Seite verfestigt. Der US-amerikanische Historiker Mitchell G. Ash prägte hierfür die Chiffre der „asymmetrischen Vereinigung im Hochschulwesen“ und kritisierte die unterschiedlichen Maßstäbe in der Beurteilung der verschiedenen Fachdisziplinen im Zuge der Wiedervereinigung (vgl. ).

Die „institutionalisierte Erzählung der Wendejahre“, so der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, würden aber zunehmend in Frage gestellt . Damit einher geht das aktuelle Schlagwort einer „Aufarbeitung der Aufarbeitung“. Abermals Kowalczuk, der jüngst bekannte, er sei an den Hochschulen der Nachwendezeit wie ein „Jakobiner“ aufgetreten, dem die Entfernung von vormaligen Funktionseliten gar nicht schnell erfolgen konnte (vgl. ). Zugleich geht es in aktuellen Studien keinesfalls um eine „Opfergeschichte der DDR-Gesellschaftswissenschaften“ . Mit dem Übergang der Transformationsphase von einer „vergangenen Gegenwart“ in die „jetztzeitige Geschichte“ sollten solche geschichtspolitischen Schlachten nicht reproduziert, sondern differenziert und historisch eingeordnet werden .

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen des 14. Forums junger Bildungshistoriker:innen. Der Inhalt vermittelt erste zentrale Erkenntnisse aus meinem Teilprojekt zur „Transformation ostdeutscher Hochschulen in den 1980/90er Jahren. Potsdam in vergleichender Perspektive.“
2 Die Aktenbestände in den Universitäts- und Landesarchiven spiegeln in ihrer Registratur leider häufig die teils chaotischen und ungeordneten Zustände der frühen 1990er. Zusätzlich sind in einigen Fällen die Akten noch in den Zwischenarchiven oder gar den Verwaltungseinheiten eingelagert.
3 Von 5.483 sind in den genannten Fächergruppen 4.879 Personen abgewickelt worden. Belastbares Zahlenmaterial der von den Abwicklungsbeschlüssen betroffenen wissenschaftlichen Hochschulangehörigen stellte die Projektgruppe Hochschulforschung 1997 nur für die fünf Universitäten in Ostdeutschland – die HUB wegen der Rechtsstreitsache ausgenommen – zusammen. Die Zahlen aller Hochschulen zusammen müssen folglich noch wesentlich höher liegen; eine abschließende Bezifferung ist dennoch sehr schwierig: Viele Hochschulangehörige wurden aus der sog. Warteschleife „reaktiviert“.
4 Insbesondere zwischen den Ministern der beiden deutschen Staaten entbrannte im Sommer 1990 eine erbitterte Fehde darüber, welchen Einfluss das Kultusministerium der DDR und Übergangsregelungen noch ausüben dürften, siehe .
5 Das westdeutsche Hochschulsystem war geprägt von: langen Studienzeiten, einer Überlast an Studierenden, einer als mangelhaft wahrgenommenen Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Maßstab und einer Unterfinanzierung der Grundhaushalte. Abhilfe sollte das Ende der 80er Jahre beschlossene Hochschulsonderproramm I (HSP I) bringen. Mit der Deutschen Einheit wurde zur Finanzierung des Hochschulumbau Ost sodann ein Nachfolgeprogramm (HSP II) beschlossen.
6 Die Arbeitsgruppe bildete sich aus dem Hochschulausschuss der Kultusministerkonferenz unter Beratung mit dem Wissenschaftsrat und dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft; die fünf Landessprecher der neuen Bundesländer nahmen beratend teil. Formal traten die fünf ostdeutschen Bundesländer der KMK erst am 6. Dezember 1990 bei; Berlin nahm eine Sonderrolle ein.
7 „Aus Tradition Grenzen überschreiten“ ist der bis heute gleichnamige Leitspruch der Universität Leipzig.
8 Bundesarchiv, BArch, DR4/431, Brief Meyer-Haas, 26.07.1990.
9 Unter Warteschleife war der sechs- bis neunmonatige Übergang bis zur automatischen Auflösung der Arbeitsverhältnisse zu verstehen; in dieser Zeit erhielten die Betroffen ein Übergangsgeld von 70 Prozent des bisherigen Einkommens.
10 Gründerzeit, erschienen in: Leipziger Volkszeitung vom 21.03.1991, aus:

Quellen und Literatur

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