Der Umgang mit ansteckenden Viruskrankheiten ist in der Geschichte der Schule nichts Neues. Im 18. und 19. Jahrhundert waren es die Blattern, auch Pocken genannt, die am meisten gefürchtet wurden. Denn daran zu erkranken war fast immer tödlich, zumindest entstellten sie schrecklich. Man kannte zwar bereits ein Impfmittel; der englische Landarzt Edward Jenner (1749–1823) hatte beobachtet, dass die Ansteckung mit Kuhpocken vor der mit Blattern schützte, und darüber ab 1798 in mehreren Artikeln berichtet . Aber ein Heilmittel gab es nicht. Daher sahen sich Provinzialregierungen wiederholt veranlasst, die Bevölkerung aufzufordern, sich impfen zu lassen, und mit Hinweis auf die hohe Ansteckungsgefahr besonders in Schulen eine härtere Gangart einzuschlagen:
„Da noch immer traurige Nachrichten über das Herrschen der Menschenpocken in mehren Gegenden außer unserem Regierungsbezirke eingehen, und wir diese verheerende Pest auf jede mögliche Weise von demselben abzuhalten uns bestreben: so fodern wir sämmtliche Inwohner in den Städten und auf dem Lande hierdurch auf, die Wohlthat der Schutzpocken-Impfung zu benützen, um ihre Kinder vor den Verunstaltungen und dem Tode durch die Menschenpocken zu sichern. Da es ferner erwiesen ist, daß durch die Schulen diese Pest vorzugweise verbreitet wird: so verpflichten wir sämmtliche Lehrer, kein Kind in die Schulen aufzunehmen, das nicht ein Impf-Zeugniß vorzuweisen im Stande ist, auch die, jetzt schon die Schule besuchenden Kinder, welche noch nicht geimpft sind, dazu zu ermahnen, und die Widerspänstigen der Behörde anzuzeigen. Jede Abweichung von dieser Vorschrift werden wir an dem Lehrer ahnden“ (; vgl. ).
Abb. 1: Die vornehmsten Krankheiten der Menschen. Pictura Paedagogica: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Buchillustrationen aus dem Bestand „Alte Drucke“ der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF); enthalten in:
Stoy, Johann Sigmund (1784): Bilder-Akademie für die Jugend. Nürnberg.
In vielen Orten blieb die Krankheit im schulischen Alltag gefürchtet, wie das Beispiel der 1778 gegründeten Berliner jüdischen Freischule zeigt. Üblicherweise informierte die Direktion der Schule Publikum und Behörden einmal jährlich mit einer Programmschrift über den Gang der Dinge; und so erfährt man auch etwas darüber, wie mit der Bedrohung durch die Blattern umgegangen wurde. Der langjährige Direktor Lazarus Bendavid (1762–1832) hatte soeben noch die erfreuliche Mitteilung machen können, dass sich die chronisch klamme Finanzsituation der Freischule gerade etwas beruhigt hatte, als sich „in dem Hause der Schulwohnung ein Pockenkranker“ fand. Die allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen in solchen Fällen waren unmissverständlich: „Ein Jeder ist schuldig, sein Betragen so einzurichten, daß er weder durch Handlungen, noch Unterlassungen, Anderer Leben oder Gesundheit in Gefahr setze“, schrieb das preußische Allgemeine Landrecht vor. Und: „Alles dasjenige, woraus dergleichen erhebliche Gefahr entstehen kann, soll durch ernstliche Polizeyverbothe, und verhältnißmäßige Strafen, möglichst verhütet werden.“
Bendavid verwies auf die entsprechende Polizeyordnung und appellierte überdies, dass sich „jeder nicht ganz sorglose Mensch wohl von selbst“ davor hüten sollte, „ohne Noth Kinder der Gefahr auszusetzen, von dieser der äussern Gestalt, wo nicht gar dem Leben drohenden Seuche angesteckt zu werden.“ Der Schulunterricht musste unterbrochen werden, aber glücklicherweise fand sich in der gleichen Straße ein Herr, der gegen „eine kleine Entschädigung“ bereit war, „uns seine Wohnzimmer einzuräumen“ , sodass der Schulbetrieb nach kurzer Unterbrechung wieder aufgenommen werden konnte.
Die Freischuldirektion legte Wert darauf, die polizeilichen Vorschriften peinlich genau zu beachten; der Fortbestand des Instituts konnte davon abhängen. Deshalb wies Bendavid das Publikum zusätzlich und mit Nachdruck darauf hin, dass „kein Knabe in die Anstalt aufgenommen wird, der nicht glaubhaft nachweiset, daß er entweder die natürlichen oder die Schutzblattern bereits überstanden hat.“ Aus demselben Grund bat „die Direction inständigst, keine Kinder zur Aufnahme zu empfehlen, von denen dieses sich nicht erweisen läßt: sie müssen abgewiesen werden, so gern man dem Empfehler zu Willen leben wollte“ .
Die jüdische Freischule war ursprünglich eine private Gründung Berliner Aufklärer und Geschäftsleute. Als es Mitte der 1820er Jahre darum ging, sie zu einer öffentlichen Gemeindeschule umzuwandeln, wurden dafür selbstverständlich Pläne vorgelegt. Der erste stammte von Bendavid selbst; vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Blattern und mit Bezug auf die polizeilichen Bestimmungen sah er auch in seinem Umwandlungsplan vor, dass „[o]hne alle Ausnahme […] kein Knabe aufgenommen (wird), der nicht glaubwürdig nachweiset, daß er bereits entweder die natürlichen Blattern überstanden, oder die Schutzimpfung erhalten hat“ . Als die Angelegenheit stockte, präsentierte der Gelehrte Leopold Zunz einen weiteren Plan, der auch Bendavids Blattern-Bestimmung wieder aufgriff . Und als schließlich in den regierungsoffiziellen Jahrbüchern des Preußischen Volks-Schul-Wesens, die Ludolph Beckedorff herausgab, die Gesetze für die jüdische Gemeindeschule in Berlin veröffentlicht wurden und vorsahen, dass nur aufgenommen wird, wer „bescheinigen kann, daß er die natürlichen Blattern überstanden, oder die Schutzimpfung erhalten hat“ , war der Geimpft-oder-genesen-Nachweis als Zulassungsbedingung zur Vorschrift geworden.
Abb. 2: Klosterstraße mit Parochialkirche in Berlin. Quelle: Eduard Gaertner, Public domain, via Wikimedia Commons.
Das Problem war damit natürlich nicht aus der Welt. 1831 kam die Cholera nach Preußen, begleitet von heftigen Auseinandersetzungen über behördliche Quarantänemaßnahmen sowie Verordnungen zur Schließung von Kirchen und Schulen. Regierungsvertreter traten in amtlichen Journalen an, die Wogen zu glätten. Der Schaden sei begrenzt, Handel und Gewerbe seien weniger betroffen als befürchtet; beklagenswert sei allerdings der Mangel an Publizität und Informationsaustausch zwischen den Behörden der europäischen Länder (vgl. ; ).
Sollte sich infolge von Jenners „wohlthätige[r] Entdeckung der Schutzpocken“ damals tatsächlich, wie behauptet, „aller Orten die Zahl der Schulkinder so auffallend vermehrt“ haben, dass „die Hälfte der Schulstuben nicht mehr Raum genug“ hatte, „dieselben zu fassen“ – dass es also aufgrund der Entdeckung eines wirksamen Impfstoffs einen enormen Bildungsaufschwung gab –, wäre das am Ende eine gute Nachricht. Allerdings kann man aus der Schulgeschichte ohne Weiteres leider ebenso wenig lernen wie aus der Geschichte überhaupt .
Abb. 3: Alwine gegen Blattern geimpft (Fingierter Titel). Pictura Paedagogica: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Buchillustrationen aus dem Bestand „Alte Drucke“ der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF); Frontispiz aus: Engelhard, Caroline (1818): Gesammelte Briefe Bd. 2. 2. verb. Aufl. Leipzig.