Lange Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit in der Historischen Bildungsforschung auf normative Schriften zu Schule und Unterricht. Auch die Forschung zur Geschichte der Historiographie hat überwiegend theoretisches und methodisches Schrifttum in den Blick genommen, wenn es um die Rekonstruktion vormodernen Geschichtsverständnisses ging. Das digitale Repositorium der Sammlung historischer Tabellenwerke hingegen bietet eine Möglichkeit, auch die Praxis des Unterrichts und der Geschichtsschreibung zu erschließen. Anhand einer Auswahl von etwa 120 Werken von über hundert Autoren lassen sich Formen der synoptischen Anschauung in der Lehre nachweisen, die Herausbildung von Raum-Zeit-Ordnungen und epistemische Techniken der vormodernen Historiographie rekonstruieren.
Die Digitalisate der Werkauswahl wurden in Kooperation mit der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB), der Universitätsbibliothek München (UBM) und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) im Rahmen des Projekts „Schauplätze des Wissens“ im Sonderforschungsbereich 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ an der Ludwig-Maximilians Universität (LMU) München erstellt. An der Projektarbeit von 2004 bis 2008 waren neben Arndt Brendecke und Benjamin Steiner (beide LMU) auch Margarete Wittke und Gregor Horstkemper (beide BSB) beteiligt, sowie als studentische Hilfskräfte Mark-Oliver Fischer, Michael Dunst, Tanja Prokic und zuletzt Fritz Huber (alle damals LMU), der die Migration der Datenbank von der Seite des SFBs auf die Seite der Abteilung für die Geschichte der Frühen Neuzeit des Historischen Seminars der LMU besorgt hat. Erfasst sind Werke aus der Zeit von 1475 bis 1850, die historische Zeit in tabellarischer Form abbilden, d.h. nicht nur rein listenhafte Aufstellungen von Ereignissen darstellen, sondern mindest zwei Kolonnen von chronologischen Daten (spatium chronographicum) und historischen Angaben (spatium historicum) aufweisen. Daher wurden rein chronologische oder annalistische Werke nur in Ausnahmen in die Sammlung mit aufgenommen. Ein weiterer Fokus liegt auf gedruckten Werken, da hier insbesondere die Tabellenform eine präzise Drucktechnik erforderte. Auch hier gibt es indes handschriftliche Ergänzungen, die in besonderen Fällen Eingang gefunden haben und kommentiert wurden.
Beispiel: Johann Funck: Chronologia, Nürnberg 1545, fol. 44.
Inhaltlich werden so Geschichtsbilder im graphischen Sinne erfasst, die sich weitgehend aus der heilsgeschichtlichen Vorstellung der testamentarischen Überlieferung ergeben, im Verlauf der Frühen Neuzeit aber durch immer größere Datenmengen aus anderen Quellen ergänzt und abgeglichen wurden. Die Möglichkeit, durch Segmentierung, Vergleich und Synopse alternative Geschichten zu konstruieren, verdankt sich so nicht zuletzt einer Technik, die historische Information der vermeintlich neutralen Ordnung der Tabelle unterwirft. Die gerasterte Verortung historischen Wissens in diesen Tableaus präfiguriert indes die Auffassung von Zeit und Raum, wie das ähnlich der Fall beim geometrischen Koordinatennetz der Kartographie ist. Die Möglichkeit der digitalen Reproduktion dieses bislang nur unzureichend edierten Korpus bietet somit einen wichtigen Einblick in die Visualisierungstechniken und -anwendungen in der Frühen Neuzeit.
Daten
Da das Genre der Historischen Tabellenwerke in vielen Fällen mit alltäglichen Anwendungen, wie etwa im Schulunterricht, verbunden war, finden sich viele unbekannte und eher zweitrangige Namen unter den Autoren. Daher stellt die Sammlung auch zahlreiche personengeschichtliche Informationen zur Verfügung, die zudem durch Querverweise zwischen den einzelnen Namen ergänzt werden. Auf diese Weise lässt sich die Kontinuität des Genres über die Frühe Neuzeit gut nachweisen und bietet zudem Anschlussmöglichkeiten zu anderen Forschungsproblemen. Zur Erleichterung der Orientierung bietet das Repositorium außerdem kurze Einführungen zum Entstehungskontext, zu Inhalt und Adressaten der einzelnen Werke. So ist die Nutzung der Seite etwa auch für Studierende und interessierte Laien geeignet.
Aufgrund der engen Kooperation mit den Bibliotheken ermöglicht der Zugriff auf die einzelnen Digitalisate auch die problemlose Einsicht in die bibliographischen Metadaten der Werke. Die Präsentation der digitalisierten Exemplare auf der Seite der BSB ist zudem mit einer Seitenleiste ausgestattet, die ein Zurechtfinden innerhalb des Werkes und einen schnellen Zugriff auf jeweils relevante Abschnitte erlaubt. In den wenigen Fällen, in denen nur ein Teildigitalisat vorliegt, werden dem Benutzer auch detaillierte Angaben zur Übersicht zur Verfügung gestellt: Vom Titelblatt über das Vorwort bis zum Beginn der Tabellen, zeitliche Schnitte jeweils um die Schöpfung, Sintflut, Geburt Christi, 800, 1000, 1200, 1500 n. Chr., gegebenenfalls der Reformation. Abgeschlossen wird die Serie jeweils durch die letzte Tabellenseite, die erste Indexseite und das Schlussblatt.
Die Informationsdichte mancher Tabellengeschichte erfordert eine besonders hohe Auflösung der digitalisierten Abbildungen. Daher werden bei manchen Werken der BSB nicht nur zwei, sondern bis zu vier Scans mit unterschiedlicher Auflösung zur Verfügung gestellt. Digitalisate jüngeren Datums und jene der HAB werden hingegen in Viewern präsentiert, die auch ein beliebig genaues Hineinzoomen erlauben. Außerdem stehen die meisten Werke auch als PDF-Dateien zum Download zur Verfügung.
Tabellenwerke in der Historischen Bildungsforschung
Als Quellen eigenen sich die Historischen Tabellenwerke für die Historische Bildungsforschung insbesondere aufgrund ihrer Anwendung in der Unterrichtspraxis. Ziel des Digitalisierungsprojekts ist es nicht nur, die synoptische Funktion durch digitale Faksimiles erstmals einem breiten Publikum zu präsentieren. Die Werke bieten in ihren zunächst auf Latein, später auch in Vulgärsprachen verfassten Vorworten, Widmungen und Einleitungen außerdem Einblicke in ihr Anwendungsgebiet, wozu nicht nur, aber insbesondere seit dem 17. Jahrhundert der Schulunterricht gehört. Einige Exemplare bieten zudem auch Benutzungsspuren, wie handschriftliche Einträge, Anstreichungen oder Besitzvermerke. Dadurch ergeben sich Möglichkeiten, die Nutzung der Tabellenwerke in didaktischen Situationen zu rekonstruieren.
Deutlich wird dabei etwa, dass Visualisierungsmedien wie Tabellenwerke oft innerhalb eines synästhetischen, d.h. alle Sinne ansprechenden Settings verortet waren. So werden die dürren Einträge der Tabellengeschichte in manchen Fällen durch handschriftliche Glossierungen ergänzt. Zu diesem Zwecke werden Tabellenwerke auch oft mit zusätzlichen Seiten durchschossen, um mehr Raum für Kommentierungen zu gewinnen. Die Tabulae chronologicae des Schulinspektors Christoph Schrader (1601-1680) etwa fanden so oft im Unterricht Verwendung, wie ein Exemplar der Ausgabe von 1696, das in der HAB aufbewahrt wird, zeigt. Hier hat offenbar ein Schüler mündliche Kommentare des Lehrers zu einzelnen Einträgen notiert. Tabellengeschichten boten so ein Gerüst der Raum-Zeit-Struktur, das dann durch orale Erzählung das Geschichtsverständnis entwickelte.
Beispiele eines beschriebenen durchschossenen Exemplars der Tabulae chronologicae (1696) aus der HAB Wolfenbüttel, Signatur: Xb 4° 166.
Eine Limitation der Digitalisate besteht freilich in ihrer virtuellen Natur. Daher werden manche Funktionen, die sich der besonderen Materialität der Tabellenwerke verdanken, nicht immer offenbar. Eine wichtige Anwendung bestand z.B. in der Möglichkeit, die Bindung der Bände aufzulösen und die Tabellenblätter für sich, etwa zur Aufhängung an der Wand, zu verwenden. So wurde auch der synoptische Zweck der Tabellen besser genutzt, der der häufig gebrauchten Redewendung des „Vor-Augen-Stellens“ (ante oculos ponere) entsprach. Daher sind Tabellenwerke nicht nur im Buchsinne verwendet worden, sondern können gleichsam wie Weltkarten als Anschauungsbilder in anderen räumlichen Kontexten gedient haben.
Von Bedeutung ist indes der gelehrte Hintergrund der Tabellengeschichten. Das chronologisch komplexere Theatrum historicum des Gießener Didaktikers Christoph Helwig (1582-1617) etwa baut eine Brücke zwischen der Wissensvermittlung in Schulen zur gelehrten Arbeit der Humanisten. So werden hier auch die komplizierten mathematischen, philologischen und astronomischen Überlegungen skizziert und tabellarisch visualisiert, die gelehrte Chronologen, wie der Leidener Philologe Joseph Justus Scaliger (1540-1609), zur Perfektionierung der Zeitrechnung beigetragen haben. Das Werk zeigt so das hohe Niveau, mit dem historisches Wissen an Schulen in der Zeit kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg vermittelt wurde.
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