Der folgende Beitrag nimmt den deutschen Abituraufsatz als bildungshistorische Quelle in den Blick und stellt anhand eines Forschungsprojektes auch den Einbezug von (möglichen) Verfahren aus dem Bereich der Digital Humanities dar.
Abituraufsätze in der deutschen Bildungsgeschichte
Mit der langsamen Durchsetzung der Idee eines meritokratischen Schulwesens bildeten sich auch Standardisierungen und Normierungen der Prüfung als eine der zentralen schulischen Praktiken heraus . Vor allem das Abitur, zuerst 1788 von Preußen eingeführt, gewann als Scharnierstelle zwischen höherer Schule und Universität ein besonderes Gewicht.
Eine zunehmende Verschriftlichung der Abiturprüfungspraxis und die stärkere Berücksichtigung des Deutschunterrichts im Zuge eines erstarkenden Nationalismus führten zu stetigen Neujustierungen des muttersprachlichen Abituraufsatzes im Rahmen der Prüfungsverordnungen.
Die spezifische Erwartungshaltung an den Aufsatz und an die Prüflinge war nicht eindeutig, sondern durch einen holistischen Charakter und teilweise ungeklärte Anforderungs- und Bewertungsmaßstäbe, auch in Bezug auf die fachlich-disziplinäre Anbindung, geprägt. So wird in dem preußischen Abiturreglement von 1834 festgeschrieben, dass jener die „Gesammtbildung des Examinanden […] beurkunden soll“ .
Trotz aller Kontroversen über den deutschen Abituraufsatz besitzt er doch eine lang andauernde „Beharrungskraft“ , obgleich über ihn unter der zeitgenössischen Philologenschaft heftig debattiert und mitunter von höchster Order Entscheidungen intendiert wurden, wie die Rede des Kaisers Wilhelm II. bei der Schulkonferenz 1890 zeigt: „Weg mit dem lateinischen Aufsatz, er stört uns, und wir verlieren unsere Zeit für das Deutsche darüber.“
Anhand der zu wählenden Aufgabenstellungen werden in den deutschen Abituraufsätzen auch sich ändernde Vorstellungen über Bildung, schulisch kanonisierte Wissensgegenstände und der Einbezug gesellschaftlich relevanter Themen deutlich. Vergleiche der Leistungen der Abiturient*innen für unterschiedliche Zeiträume sind für die bildungshistorische Forschung nicht nur durch die Problematik der Notengebung, sondern auch durch variierende Notenskalen einigermaßen schwierig. Ein derzeit an der BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation durchgeführtes Forschungsprojekt zum Abituraufsatz fokussiert vorwiegend praxeologische und wissensgeschichtliche Untersuchungsinteressen und fragt unter anderem nach Funktion und Funktionsweisen von schulischen Prüfungen und der Eigen-Logik von Abituraufgaben in ihrem jeweiligen historischem Kontext .
Forschungsprojekt zu Abituraufsätzen in der Bibliothek für Bildungsgeschichte Forschung (BBF)
Das interdisziplinäre Projekt Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882 bis 1972. Wissens(re)präsentation in einem historisch-praxeologischen Pilotprojekt, als interne Kooperation mit dem Informationszentrum Bildung (IZB) des DIPF und extern mit dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, wurde beim Senatsausschuss-Wettbewerb der Leibniz-Gemeinschaft 2016 in der Förderlinie „Innovative Vorhaben“ ausgewählt.
Mit Blick auf historische Transformationsprozesse der Prüfungspraktiken des Abiturs, vor allem des Schreibens und Bewertens des Aufsatzes, werden im historischen Längsschnitt die Regionen Preußen (bzw. ehemalige preußische Territorien) und Bayern erforscht. Angewandt werden hierfür auch Verfahren und Analysemethoden der Digital Humanities wie Digitalisierung, Transkription und Annotation eines großen Bestandes von Abituraufsätzen, der durch weitere bildungshistorische Quellen umfassend kontextualisiert und als Gesamt-Korpus in einer Virtuellen Forschungsumgebung für die wissenschaftliche Nachnutzung bereitgehalten wird.
Abiturakten als Quellen der Prüfungspraxis im Archiv der BBF
Grundlegend für die Arbeit im Forschungsprojekt ist der im Archiv der BBF – ein öffentlich zugängliches, sammelndes Spezialarchiv zur Bildungsgeschichte und Bildungspraxis – deponierte Bestand von 1.687 deutschen Abituraufsätzen eines preußischen Gymnasiums. Den Zeitraum 1856 bis 1971 umfassend sind sie Bestandteil von Abiturprüfungsakten einer heute am westlichen Stadtrand Berlins gelegenen Schule bzw. seiner zehn durch verschiedene Zusammenlegungen als Vorgängeranstalten zu definierenden höheren Jungen- und Mädchenschulen.
In unterschiedlicher, aber zumeist bemerkenswerter Vollständigkeit können die Akten prinzipiell weitere Dokumente wie Prüfungsanmeldungen, von Schüler*innen verfasste Bildungsgänge, Zulassungsgutachten zum Abitur, Reifeprüfungsarbeiten und -aufsätze auch anderer Fächer und deren Bewertungen, Zeugnisduplikate und verschiedene Protokolle und Dokumentationen des Prüfungsverfahrens beinhalten und sind durch eine „Beständigkeit der wesentlichen Aktenelemente“ gekennzeichnet.
Erweiterung des Quellenkorpus und Digitalisierung
Für regional-vergleichende Untersuchungen wurden weitere Quellenbestände aus Bayern ermittelt, wo – anders als in Preußen – Formen zentraler Prüfungen eingeführt wurden. Bei Recherchen in Staats-, Landes-, Stadt- und Schularchiven fanden sich zwar wiederholt vereinzelte Abituraufsätze, angestrebt war jedoch ein ergänzendes Korpus aus möglichst umfangreichen Klassensätzen und mehreren Jahrgängen.
Von zwei bayerischen Gymnasien in Bayreuth und Straubing liegen nunmehr entsprechende Aufsätze als digitale Daten vor.
Der physische Bestand von deutschen Abituraufsätzen des preußischen bzw. Westberliner Gymnasiums wurde nach einer Retrokonversion des Archivguts als Einzel-Blatts-Scans digitalisiert. Wie auch jene aus Bayern wurden sie mit bibliographischen Metadaten versehen und werden über das digitale Textarchiv Scripta Paedagogica Online (SPO) zugänglich gemacht.
Digitalisierte Abituraufsätze | |||
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Zeitraum | Berlin | Bayreuth | Straubing |
1893 – 1918 | 56 | 156 | – |
1919 – 1932 | 249 | 6 | – |
1933 – 1945 | 195 | 66 | – |
1946 – 1971 | 1.187 | 85 | 408 |
Gesamt: 2.408 | 1.687 | 313 | 408 |
Transkription eines Teilbestandes von Abituraufsätzen
Für das Forschungsprojekt wurde ein Teilbestand der Abituraufsätze transkribiert. Auswahlkriterien hierfür waren eine besondere Eignung durch große Klassensätze und ein zeitlicher Abstand von etwa fünf Jahren. Als mittlerweile etablierter Standard in den Geisteswissenschaften erfolgte eine Orientierung an den TEI-Richtlinien und die Verwendung des Programms Oxygen XML Editor 18.1.
Unter Beibehalt der originalen Orthographie und Zeichensetzung wurde im Sinne einer diplomatischen Transkription vorlagengetreu vorgegangen und auch Hervorhebungen im Text, Textänderungen durch die Schüler*innen (wie Löschungen oder Einfügungen) sowie Korrekturen und Beurteilungen durch die Lehrpersonen berücksichtigt. Hierfür wurden einheitliche Transkriptionsrichtlinien vereinbart, für die Korrekturzeichen Konkordanzlisten und für die teilweise vorgenommene Anonymisierung zufallsgenerierte IDs erstellt.
Sowohl auf Ebene der Klassensätze als auch für die einzelnen Aufsätze darin wurden Metadaten erfasst. Neben Prüfungsdatum, -thema und -bewertung wurden auch Angaben zur Grundschrift (z.B. Kurrent oder Latein), zu Schrift- und Korrekturfarben, zu Auffälligkeiten im Text, zum Papier und zu den möglichweise verwendeten Hilfsmitteln vermerkt.
Insgesamt konnten 372 Abituraufsätze aus dem Untersuchungszeitraum mit Fokus auf Berlin transkribiert werden.
Transkribierte Abituraufsätze | ||
---|---|---|
Zeitraum | Berlin | Straubing |
1893 – 1918 | 35 | – |
1919 – 1932 | 13 | – |
1933 – 1945 | 36 | – |
1946 – 1971 | 230 | 28 |
Gesamt: 342 | 314 | 28 |
Virtuelle Forschungsumgebung (VFU) für die wissenschaftliche Nachnutzung
Die Virtuelle Forschungsumgebung (VFU) Semantic CoraA, ein kollaboratives Web-2.0-Werkzeug auf der Basis von Semantic MediaWiki (SMW), wurde iterativ dem bildungshistorischen Projekt angepasst.
Die VFU dient zunächst der langfristigen Archivierung des zusammengestellten Korpus von Aufsätzen, der entsprechenden Metadaten und der Verknüpfung mit weiteren kontextualisierenden Quellen in Form von Bibliographien (Verordnungen & Ratgeber) und Sammlungen (Abituraufgabenstellungen & Schuljahresberichte) den Untersuchungszeitraum umfassend und teilweise darüber hinausgehend. Als Forschungsinfrastruktur soll sie eine wissenschaftliche Nachnutzung ermöglichen – nicht nur für genuin bildungshistorische Fragestellungen, sondern es ist durchaus auch die Ausschöpfung der Ressourcen für Forschungsinteressen aus den linguistischen, fachdidaktischen und anderen Disziplinen perspektivisch denkbar.
Alle 1.687 digitalisierten Abituraufsätze sind über eine URN mit den Scans auf SPO bzw. mit den Transkriptionen in der VFU verlinkt. Verschiedene Optionen von benutzerdefinierten Abfragen und Annotationsmöglichkeiten werden derzeit getestet.
Das Abitur wurde zunehmend juristisch geregelt und durch entsprechende Gesetzestexte publik gemacht. Unter den Bibliographien ist daher jene mit 900 Verordnungen und -gesetzen, die im weitesten Sinne die Hinführung zum und die Durchführung des Abiturs in den Regionen Preußen und Bayern regulierten, sehr umfangreich und breit aufgestellt; wohingegen eine Auswahlbibliographie zur Geschichte des Abiturs als Prüfung, zum Deutschaufsatz und zur Schulgeschichte des höheren Schulwesens eine kleinere Anthologie relevanter Forschungsliteratur beinhaltet.
In der VFU sind weiterhin zwei Bibliographien aus dem Genre der Ratgeberliteratur eingepflegt: zum einen (Eltern-)Ratgeber, die die zeitgenössischen höheren Schulen, institutionellen Übergangsentscheidungen und den Begriff der ‘Reife’ thematisieren, und zum anderen Schüler*innen adressierende Interpretationshilfen, die in der Vorbereitung auf das Deutschabitur, insbesondere im Umgang mit den „Klassikern“ der deutschen Literatur, dienen sollen und durch die Berücksichtigung bekannter Reihen Längsschnittvergleiche ermöglichen.
Die 687 Abituraufgabenstellungen des digitalisierten Quellenbestandes wurden nach Themen, Literaturbezügen und anderen Kategorien untersucht. Die gesamte Sammlung umfasst derzeit 1.670 Themenstellungen aus 13 Schulen von 7 Städten in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen sowie aus Berlin und bietet demnach noch Potentiale für weitere Auswertungen.
Von den Schuljahresberichten, die der staatlichen Schulhoheit entsprechend von höheren Schulen in Preußen ab 1825 einmal jährlich für die Schulverwaltungen anzufertigen waren , befinden sich jene für das Berliner Gymnasium gerade im Digitalisierungsprozess. In der VFU werden sie dann mit den entsprechenden Abiturjahrgängen verknüpft und sind als Bilddateien via SPO einsehbar.
Schlussbemerkung
Der Zugang zur Virtuellen Forschungsumgebung wie auch zu den Digitalisaten auf SPO ist derzeit nur über einen geschützten Zugang für Projektmitarbeiter*innen zugänglich. Nach Abschluss des Forschungsprojektes können die Abituraufsätze, die kontextualisierenden Quellen bzw. Bibliographien und Sammlungen gemäß entsprechendem Antrag auf Schutzfristverkürzung beim Archiv der BBF zu wissenschaftlichen Zwecken nachgenutzt werden.