Schulprogramme sind eine wichtige und wertvolle Quelle für die bildungshistorische Forschung, die erst seit kurzer Zeit wachsendes Interesse erfährt . Anders als der Name vermuten lässt, handelte es sich bei den Schulprogrammen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht um programmatische Schriften, in denen etwa die strukturelle Weiterentwicklung oder das pädagogische Leitbild einer Schule dargelegt wurde. So stellen Schulprogramme vielmehr Jahresberichte dar, in denen höhere Schulen die Schulnachrichten eines Jahres sowie Angaben zu Unterrichtsinhalten, Prüfungsaufgaben und Absolventen zusammengefasst haben. Diese Schulprogramme wurden für jedes Schuljahr angefertigt und in der Regel gemeinsam mit dem Fachbeitrag eines Lehrers veröffentlicht .
Schulprogramme: Vom Massenprodukt zur bildungshistorischen Quelle
In Preußen wurde mit dem Circular-Rescript von 1824 der Versuch unternommen, den Aufbau der Schulprogramme zu vereinheitlichen und sie dadurch zu einem Instrument der Schulaufsicht zu machen. Im 19. Jahrhundert verzeichneten diese weit verbreiteten Druckschriften einen regelrechten Boom. Der Erfolg der Schulprogramme ergab sich vor allem aus der gestiegenen Nachfrage bildungsbeflissener Bürgerinnen und Bürger an den für die interessierte Öffentlichkeit verfassten Fachbeiträgen der Lehrer. Die oftmals dünnen, broschierten Schriften wurden vielerorts zu einem Massenprodukt und gingen in dieser Zeit in die Bestände zahlreicher wissenschaftlicher Bibliotheken ein. Schulprogramme können heute (nicht nur) der bildungshistorischen Forschung als reichhaltige Quelle dienen, indem sie sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Frage- bzw. Problemstellungen zur Geschichte des Schul- und Bildungswesens erlauben, etwa zur Geschichte einzelner Schulen und Unterrichtsfächer, ihrer Lehrinhalte und Prüfungspraktiken, zur Alltags- und Festkultur sowie zur Lehrer- und Schülerschaft. Dass Schulprogramme in der Forschung eher wenig berücksichtigt wurden, erklärt sich zum einen durch das eher geringe Interesse sowohl der einzelnen Fachwissenschaften an den Fachbeiträgen als auch der Bildungshistoriografie an der Geschichte der Unterrichtspraxis, zum anderen mangelte es auch an einer entsprechenden Erschließung und Verfügbarmachung der vorhandenen Schulprogramm-Bestände in den entsprechenden Bibliotheken. Die Handhabung der dünnblättrigen, manchmal bereits beschädigten, verblassten oder beschmutzten Broschüren galt als schwierig und warf Fragen der Bestandserhaltung auf. Auch deswegen galten Schulprogramme für Forschende als weniger attraktiv oder waren als Quellengattung gänzlich unbekannt. Der bisherigen geringen Berücksichtigung von Schulprogrammen in der bildungshistorischen Forschung lässt sich durch eine verstärkte Erschließung und (digitale) Verfügbarmachung der Bestände in den entsprechenden Bibliotheken entgegenwirken.
Exemplarisch soll im weiteren Verlauf des Beitrags ein Blick in die Jahresberichte des Paulinischen Gymnasiums zu Münster gerichtet werden, die der Quellengattung Schulprogramm zuzuordnen sind. Die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf stellt in ihren digitalen Sammlungen die Berichte der Jahre 1840/41 bis 1872/73 (Bd. 22–54) und 1883 bis 1915 (Bd. 64–95) frei zur Verfügung. Weitere Jahrgänge können aus der Digitalen Bibliothek des Münchener Digitalisierungszentrums (MDZ) (Bd. 55–59) ergänzt werden, deren Reproduktionen auf dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) beruhen. Eine Digitalisierung und Bereitstellung der noch fehlenden Jahrgänge, die insbesondere die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts betreffen, wird derzeit angestrebt.
Jahresbericht über das Königliche Gymnasium zu Münster
Bd. 22–38 | Schuljahre 1840/41–1856/57
https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:061:1-438108
Jahresbericht über das Königliche Paulinische Gymnasium zu Münster
Bd. 39–54 | Schuljahre 1857/58–1872/73
https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:061:1-437505
Bd. 43, 47, 54–59 | Schuljahre 1861/62, 1865/66, 1872/73–1878/79
https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10682971-2
https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10682972-8
https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033009-7
https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11327482-6
https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11351977-5
https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11365326-1
https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11382976-0
Bd. 64–95 | Schuljahre 1883/84–1914/15
https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:061:1-437505
Die kulturgeschichtlich interessierte historische Bildungsforschung hat mittlerweile ein großes Interesse an diesen Schulprogrammen und damit einen Beitrag zur deren Erforschung leisten können. Die wachsenden Möglichkeiten der Digitalisierung, Archivierung und Bereitstellung von digitalen Reproduktionen erlauben schon seit einiger Zeit eine zeit- und ortsungebundene sowie uneingeschränkte Erforschung der Schulprogramme in Form von digitalen Reproduktionen. Zahlreiche digitale Bibliotheken stellen entsprechende Angebote frei zur Verfügung. Die persistenten Links (URN), mit denen die bereits digitalisierten Jahrgänge versehen wurden, können dazu dienen, dass Schulprogramme leicht und verlässlich verlinkt und genutzt werden. Auch ‚ScriptaPaedagogica‘ (https://scripta.bbf.dipf.de), das Textarchiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF), bietet bereits ein umfangreiches Angebot an digitalisierten Schulprogrammen und Schuljahresberichten. Eine Übersicht, welche Jahrgänge welcher Schulen in den digitalen Sammlungen und Bibliotheken bereits verfügbar sind und wo noch Lücken bestehen, ist jedoch noch nicht vorhanden. Ein entsprechendes Rechercheinstrument wäre jedoch nützlich und ist notwendig, um die Auffindbarkeit und Nutzung digitalisierter Schulprogrammen in Zukunft erleichtern und sicherstellen zu können. Die Bereitstellung – entweder als direkter Download oder über einen integrierten Viewer – erfolgt in der Regel als Bilddatei. Gelegentlich – etwa in der Digitalen Bibliothek der Bayerischen Staatsbibliothek – wurden die Digitalisate mithilfe von OCR so aufbereitet, dass der Text im Viewer nach Schlagworten durchsucht werden kann. Die Quellenanalyse durch Forschende erfolgt dadurch jedoch immer noch auf konventionelle Weise, da digitale Forschungsmethoden und Tools aus dem Feld der Digital Humanities eben nicht nur einen automatisch durchsuchbaren Volltext voraussetzen, sondern auch Möglichkeiten eines einfachen und gesicherten Datenexports zur externen Weiterverarbeitung und Textanalyse. Größere Sammlung digitalisierter Schulprogramme stellen zudem die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf (http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp) mit ca. 40.000 Abhandlungen sowie die Universitätsbibliothek Gießen (https://www.uni-giessen.de/ub/ueber-uns/sam/schulprogramme) mit ca. 48.000 Schriften frei zur Verfügung. Weitere Bestände werden kontinuierlich erschlossen, digitalisiert und verfügbar gemacht.
Die Jahresberichte des Paulinischen Gymnasiums zu Münster als Beispiel
Abb. 1: Titelseite zum Schuljahresbericht 1865/66 (Bayerische Staatsbibliothek, https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10682972?page=5)
Abb. 2: „Chronik des Gymnasiums“ aus dem Schuljahresbericht 1865/66, Ausschnitt S. 25 (Bayerische Staatsbibliothek, https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10682972?page=31)
Anhand der Jahresberichte des Paulinischen Gymnasiums zu Münster können beispielhaft vielfältige bildungshistorische Fragestellungen entwickelt und bearbeitet werden. Sie versprechen neue Einblicke und Einsichten in die Geschichte der Schule im Umfeld des katholischen Milieus der Stadt Münster im Spannungsfeld von Kirche und preußischem Staat über einen langen Zeitraum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinweg. So spiegeln die Schulnachrichten ab den 1870er Jahren wider, wie Staat und Bürokratie während der Kulturkampfzeit das kirchlich durchwirkte Schulleben einzudämmen versuchen. Im Gegensatz zum katholischen Zeitschriftenwesen wurden die Schuljahresberichte allerdings nicht zum Sprachrohr des katholischen ‚Widerstands‘, der sich seiner Zeit nicht nur in Westfalen gegen die staatliche Kontrolle und vermeintliche Bevormundung wandte. Sachlich und nüchtern wird daher von der Feier des Sedantags und des Kaisergeburtstags berichtet, aber ebenso von dem bischöflich verordneten dreizehnstündigen Gebet und dem 25-jährigen Pontifikat des ‚unfehlbaren‘ Papstes Pius IX. – ein Anlass, der 1871 noch mit einem Festgottesdienst mit Prozession unter Beteiligung aller Schüler gefeiert wurde . Mit dem Erlass zur Auflösung religiöser Vereine und dem Verbot zur Teilnahme der Schüler an der Großen Prozession – beide Ereignisse werden in den Schulnachrichten thematisiert – drang der „Kulturkampf“ immer stärker in den Schulalltag des Paulinums ein. „Die Zukunft gehört Dem, der die Schule hat“, so brachte die politisch-satirische Zeitschrift „Kladderadatsch“ im Dezember 1875 das Ringen um das Schulwesen zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat auf den Punkt .
Abb. 3: „Die Zukunft gehört Dem, der die Schule hat“ – Karikatur aus dem Kladderadatsch, 19.12.1875 (Universitätsbibliothek Heidelberg, https://doi.org/10.11588/diglit.2257#0748 ).
Erst ab den 1890er Jahren – und damit später als in anderen preußischen Gebieten – setzte sich auch in der Provinz Westfalen und ihrer Hauptstadt Münster eine größere Zustimmung gegenüber Kaiser und Krone durch, was sich in den Schuljahresberichten an der Mitfinanzierung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals ebenso nachvollziehen lässt wird wie anhand der ausführlich geschilderten Einweihungsfeier des neuen Schulgebäudes . Auch in den Themen der Schulaufsätze wird schließlich die Loyalität gegenüber Preußen demonstrativ und unbeschwert zum Ausdruck gebracht: „Was verdankt Deutschland den Preußen?“
Abb. 4: Die Postkarte (um 1903) zeigt den am 25. April 1898 bezogenen Neubau des Gymnasiums Paulinum, links die Petrikirche, rechts das alte Akademiegebäude (Stadtmuseum Münster, https://nat.museum-digital.de/object/738806).
Genauer soll an dieser Stelle nicht auf die hier nur exemplarisch ausgewählten Textbezüge eingegangen werden, da diese noch einer eingehenderen Untersuchung und Darstellung bedürfen, die hier nicht geleistet werden kann. Auch liegt für den „Kulturkampf“ in Westfalen derzeit keine umfassende Studie vor, die hierfür als Grundlage dienen könnte. Dabei deutet schon alles darauf hin, dass gerade das Schul- und Bildungswesen in den 1870er Jahren zwischen die Fronten von Kirche und Staat geriet und zu dem am stärksten umkämpften Bereich im „Kulturkampf“ wurde. So stießen an den höheren Schulen Westfalens die Bildungsvorstellungen der preußischen Reformen bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert auf anhaltende Kritik und Ablehnung, die in den Schuljahresberichten in der entsprechenden Schärfe zwar nicht zum Ausdruck gebracht werden, jedoch eingebettet in den historischen Kontext dennoch durchscheinen. Vorbehalte in konfessioneller bzw. konfessionskultureller Hinsicht sorgten seit Beginn des 19. Jahrhunderts dafür, dass sich die Reorganisation des Schulwesens in den neuen katholischen Gebieten der preußischen Provinz ab 1815 nur sehr langsam den neuen Vorgaben anpasste . Am Paulinischen Gymnasium zu Münster hat die äußere Anpassung an die Struktur und Organisation des preußischen Gymnasiums bis weit in die 1840er Jahre gedauert, doch „auf die inneren, den Geist des Unterrichts betreffenden Maximen,“ so Karl-Ernst Jeismann, hat die staatliche Schulaufsicht der Provinz „weder einwirken wollen noch können“ .
Ausblick
Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Jahresberichten des Paulinischen Gymnasiums wird die oben genannten und weitere Zusammenhänge stärker ausleuchten und im Einzelnen präziser ergründen können. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit – wie es Sabine Reh und Stefan Cramme jüngst angeregt haben – die Jahresberichte der höheren Schulen einer bestimmten Region bzw. „Bildungslandschaft“ als Grundlage für eine virtuelle Wissensumgebung zu nehmen, in der die bereitgestellten Datensätze mit weiteren frei verfügbaren digitalen Ressourcen kombiniert, verlinkt, angereichert und auch visualisiert werden können. Eine lückenlose Digitalisierung und optimale Bereitstellung der Daten ist hierfür eine Voraussetzung, wenn auch schon die Beschäftigung mit einzelnen Ausgaben dieser und weiterer Schuljahresberichte interessante Einblicke und Beobachtungen für die bildungshistorische Forschung bereithält.